Es gibt Nächte, die fühlen sich an, als würde ein unsichtbares Wesen im Zimmer stehen.
Ich nenne es den Nachtalb.
Er kommt leise, oft nach Tagen, an denen scheinbar nichts mehr möglich war.
Und plötzlich treibt er an, als müsste jetzt etwas Großes geschehen – sofort.
Ich erinnere mich an meinen Umzug.
Tagsüber war kaum etwas zu schaffen.
Mein Partner, der an einer Depression litt, lag oft stundenlang im Bett.
Selbst kleine Handgriffe – ein Karton, eine Kiste – schienen unüberwindbar.
Die Kraft fehlte, die Motivation war wie ausgelöscht.
Alles wirkte zu schwer, zu viel, zu sinnlos.
Doch wenn die Nacht hereinbrach, änderte sich alles.
Plötzlich stand er auf, beinahe getrieben.
Das Auto wurde vollgeladen, Möbel gerückt, Kartons verschoben.
Mitten in der Dunkelheit begann ein fiebriger Aktivismus, während die Welt draußen schlief.
Es war, als würde der Körper erst dann die Energie finden – oder eher: als würde die innere Unruhe keine Ruhe geben, bis etwas getan wurde.
Diese Mischung aus völliger Erschöpfung und unstillbarem Drang ist typisch für Depressionen.
Viele Betroffene erleben Phasen, in denen sie sich tagsüber kaum bewegen können, nur um nachts von einer unerklärlichen Rastlosigkeit heimgesucht zu werden.
Fachleute erklären dieses Phänomen unter anderem so:
- Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus – Depression beeinflusst die innere Uhr. Der Körper findet keinen stabilen Tagesrhythmus mehr.
- Innere Anspannung – Die Krankheit erzeugt oft unterschwellige Angst oder Stress. Diese Spannung kann sich nachts entladen.
- Aggression und Überaktivität – Was am Tag unterdrückt wird, bricht sich im Schutz der Dunkelheit Bahn.
Als Angehörige war es schwer, diese Widersprüche auszuhalten.
Am Tag schien alles stillzustehen – und ich fühlte mich hilflos.
Nachts dagegen wirkte er plötzlich voller Energie, aber es war keine gesunde, tragende Kraft. Das alles trug dazu bei, sich noch weiter von mir zu entfernen…durch und durch destruktiv!
Es war ein Getriebensein, das keine Erleichterung brachte. Am nächsten Tag folgte die unausweichliche Erschöpfung… und das Spiel begann von vorne.
Er schleppte Kisten, rückte Möbel, während er innerlich leer war…und ich auch ein wenig. Eine gruselige Erfahrung im Bett zu liegen, während der andere in die eigene Intimsphäre einbricht. Ich wusste nie, wo er als nächstes herumwühlt.
Ich spürte, dass es nicht um den Umzug ging. Es ging darum, sich selbst zu beweisen, leistungsfähig zu sein.
Es war ein verzweifelter Versuch, der inneren Dunkelheit zu entkommen – wenigstens für ein paar Stunden. Sich selbst zu fühlen.
Wenn Du so etwas erlebst, ob bei Dir selbst oder bei einem geliebten Menschen, möchte ich Dir sagen:
Du bist nicht allein.
Depression ist keine Frage von Willenskraft.
Sie ist eine Erkrankung, die sich auf Körper, Geist und Gefühle auswirkt – und sie braucht Unterstützung, nicht Vorwürfe.
💡 Was helfen kann
- Struktur am Tag: Feste Rituale, regelmäßige Mahlzeiten und kleine Aufgaben können helfen, den Tag-Nacht-Rhythmus zu stabilisieren.
- Offene Gespräche: Sag, was Du beobachtest. Nicht wertend, sondern beschreibend: „Ich sehe, dass Du nachts aktiv wirst und kaum schläfst.“
- Professionelle Hilfe: Therapie, ärztliche Begleitung und manchmal auch Medikamente sind wichtige Bausteine auf dem Weg aus der Depression.
Der Nachtalb ist ein mächtiger Gegner.
Doch er verliert an Kraft, wenn wir ihn benennen, verstehen und nicht allein bekämpfen müssen.
Wenn Du diese Zeilen liest und Dich darin wiederfindest:
Bitte hol Dir Unterstützung – für Dich selbst oder für den Menschen, den Du begleitest.
Der erste Schritt aus der Dunkelheit beginnt oft damit, dass wir darüber sprechen.
Schreibe einen Kommentar